Unsere Weihnachtsgeschichten

SCHEIN UND SEIN - EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE

Dicke, große Schneeflocken rieselten vom Himmel und kleideten Felder und Bäume in ein prächtiges, weißes Gewand. Der Tag neigte sich zu Ende. Der Rabe saß versteckt in einer Tanne und lugte zwischen den Ästen hervor. Ihm war kalt. Gegenüber beobachtete er eine Eule, die sich für die Jagd bereit machte. Sie putzte ihr schönes, weißes, bauschiges Gefieder. Traurig senkte der Rabe seinen Blick und sah auf sein pechschwarzes Kleid herab. Im Winter kam es ihm besonders hässlich vor. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er etwas Goldenes durch den Schnee wuseln sah. Beleuchtet vom Mond blitzte es immer wieder hervor. Der Rabe kam aus seinem Versteck und flog Ast für Ast herunter. Er traute seinen Augen nicht: Es war eine Maus mit goldenem Fell!

In diesem Moment riss die Eule sie vom Boden und verschwand mit ihr in die Dunkelheit. Der Rabe war bestürzt. Zu gern hätte er gewusst, wie die Maus zu ihrem besonderen Fell gekommen war. So versuchte er der Eule zu folgen - und hatte Glück. Im dunklen Wald erkannte er den goldenen Schimmer der Maus und sah, wie sie mit der Eule sprach: „Wenn Du mich frisst, wird es kein Weihnachten mehr geben!“ „So ein Unsinn“, sagte die Eule, „was erzählst Du da?“ „Es ist wahr“, sagte die goldene Maus, „ich bin ...“ Weiter kam sie nicht mehr, der Rabe zog sie im Flug aus den Klauen der Eule, die entsetzt kreischte. Er flog weit und weiter, bis er mit der Maus auf einem hohen Baumwipfel landete.

„Willst Du mich auch fressen?“, fragte sie zitternd. „Nein, mich interessiert viel mehr, wie Du zu Deinem leuchtenden Fell gekommen bist!“, sagte der Rabe. „Ach, hm. Die Farbe ist nicht echt“, flüsterte die Goldmaus verlegen. „Ich war so traurig und wollte nicht mehr unscheinbar sein. Da hab ich durch›s Fenster gesehen, wie Kinder Papiersterne golden anmalten. Ich schlich mich nachts ins Haus, nahm ein Bad im Farbtopf und trocknete mich auf der warmen Heizung.“ Der Rabe glubschte verdutzt. „Warum hast Du der Eule gesagt, dass es kein Weihnachten mehr geben würde, wenn sie Dich auffrisst?“ Die Maus blickte verlegen. „Na ja, das war ein Trick wie der mit der Farbe.“ „Du bist sehr clever, kleine Maus“, schmunzelte der Rabe begeistert. Seine Augen leuchteten als er daran dachte, wie er bald aussehen könnte. „Nein, Rabe, das bin ich nicht. Ich war ziemlich dumm. Das Gold hat mein Mausgrau verdeckt, doch ich bin sichtbarer denn je. Jede Nacht muss ich mir irgendwelche Geschichten ausdenken, um meinen Jägern zu entkommen. Erst jetzt verstehe ich, warum es gar nicht gut wäre, wenn alles golden wäre. Es gäbe kein Himmelblau und keine grüne Wiesen und was wäre ein Regenbogen nur aus Gold? Wir würden vergessen, wie viel Farben das Leben hat und das sie alle dazu gehören. Wenn wir versuchen, eine davon zu verbergen, sind wir nicht mehr wir selbst. Wir scheinen zu glänzen, doch ist es nur der Schein, nicht unser Licht.“

Der Rabe senkte seinen Kopf. Der Mond ließ sein schwarzes Gefieder silbrig glänzen. Er verstand. Wie viel Zeit hatte er damit vergeudet, etwas zu verändern, was nicht zu ändern war - und es auch nicht wert gewesen wäre. Er blickte zur Maus: „Komm, ich helf Dir, den Schein runter zu waschen.“ Die Maus nickte und blickte nochmal auf ihr goldgefärbtes Fell. Dann wälzten sich die beiden im Schnee, formten darin Engel, große und kleine. Ihr Lachen erhellte die dunkle Nacht.

Ingrid Yasha Rösner, exklusiv für den Sauerländer Hof

LICHT UND SCHATTEN - DIE NEUE WINTERGESCHICHTE MIT RABE UND MAUS
(Weihnachten 2021)

Wieder war es Winter geworden. Die Schneeflocken rieselten vom nachtblauen Himmel. Der Mond erhellte die Dunkelheit.

Es war still, ganz still. Das Weiß schluckte jeden Laut. Nur ein leiser Windhauch war zu hören. Kalt, aber sanft strich er über die schneebedeckten Felder und blies durch das Fell der kleinen Maus, die zum Raben auf die alte Eiche hochgeklettert war. Seit ihrem goldenen Abenteuer waren die beiden unzertrennlich (mit diesem QR-Code geht's zur Geschichte). „Du, Rabe», sagte die Maus, „wie macht der Mond das eigentlich, dass er so hell leuchtet?” „Weißt du das etwa nicht?”, fragte der Rabe erstaunt.

Die Maus schüttelte den Kopf. „Er kann nachts nur leuchten, weil er tagsüber Sonnenlicht tankt”, erklärte der Rabe. „Wie macht er das?”, wollte die Maus wissen, „Ist er so eine Art Solarzelle?" „Du weißt, was Solarzellen sind, hast aber keine Ahnung von dem, was tagtäglich draußen in der Natur vor sich geht?” krächzte der Rabe. Die Maus erzählte ihm, wie vor kurzem ihr Mäuseonkel allen Verwandten stolz seine neue Mausehöhle gezeigt hatte. An seinem sonnigen kleinen Versteck vor einer alten Hütte hatte er ein Stück einer abgebrochenen Solarzelle befestigt und mit lauter Kabeln nach innen in die Stube verdrahtet. Er hatte ihnen begeistert erklärt, wie diese ihm im Winter Licht und Wärme zaubern würde und er dann bei Eiseskälte nicht mehr auf Gruppenkuscheln mit ihnen angewiesen wäre.

Alle standen mit offenen Mäulchen da und wussten nicht, ob das nun gut oder schlecht war. Doch seine Idee funktionierte nicht. Jetzt fror er, schimpfte vor sich hin, alles erschien ihm nutz- und wertlos und er blieb in seinem dunklen Versteck sitzen. Keiner konnte ihn raus locken, nicht zu einer Streiftour über Wiesen und Felder, nicht einmal in die Kornkammer von Bauer Jakob. „Manches kann man nicht mehr reparieren”, meinte der Rabe und schüttelte den Kopf, „aber man muss wissen, was einem wirklich wichtig ist.” Die Maus rückte ein wenig näher an den Raben und kuschelte sich an ihn.
„Ich bin froh, dass ich mich an dir wärmen kann”, meinte die Maus und wurde ein bisschen rot unter ihrem Fell. „Dinge können kaputt gehen, aber Freundschaften nicht.” „Doch”, befand der Rabe, „wenn man sie nicht pflegt, sie nicht wertschätzt und anderen nicht zeigt, was sie einem bedeuten. So wie bei deinem Onkel. Ihn friert es nicht, weil seine Idee nicht funktioniert, sondern weil er einsam ist und nicht mehr fühlt, was er wirklich zum Leben braucht.” Die Maus dachte nach – und an ihren Mäuseonkel. Er war nicht wiederzuerkennen.

Keiner der Verwandten besuchte ihn mehr, denn er war miesepetrig und scheuchte alle davon. Es schien, als hätte sich ein dunkler Schatten über ihn gelegt. Der Maus stellte es bei diesem Gedanken das Fell auf, aber mit dem Raben an der Seite ging es ihr schon besser. Der Rabe spürte ihr Zittern, legte einen Flügel um ihren kleinen Körper und wärmte sie mit seinem schwarz glänzenden Federkleid. Die Maus schloss ihre Augen
und seufzte. Keine Solarzelle der Welt könnte ihr dieses Gefühl schenken. Geborgenheit. Nähe. Gemeinsamkeit. Sie blickten in den nächtlichen Sternenhimmel zu dem dicken, runden Mond.

Irgendwie schien er noch ein bisschen heller zu leuchten als vorhin. Und die beiden beschlossen, morgen den Mäuseonkel zu besuchen und mit ihm draußen Sonnenlicht zu tanken, um später gemeinsam in die dunkle Nacht hineinzuleuchten.

Ingrid Yasha Rösner, exklusiv für den Sauerländer Hof